Mittwoch, 30. Oktober 2013

Weniger Arbeitslose, mehr Altersarmut – wie kommt’s?

Von Jörg Wellbrock alias Tom W. Wolf
 
Fast zeitgleich gingen durch die Medien zwei Meldungen: Die Arbeitslosenzahl sei so niedrig wie schon seit einem Jahr nicht mehr. Und die Altersarmut nehme stetig zu. Wäre es nicht naheliegend, einen Zusammenhang herzustellen?

Tom W. Wolf
So gut wie auf den ersten Blick ist die Nachricht gar nicht. Zwar waren im Oktober 2013 rund 48.000 Menschen weniger arbeitslos als im September. Aber auch 48.000 mehr als im Oktober 2012. Die offizielle Zahl lautet 2,801 Millionen Arbeitslose. Nimmt man noch die jahreszeitlich bedingten Schwankungen heraus, stieg die Zahl der Arbeitslosen sogar um 2.000 im Vergleich zum Vormonat.

Doch das ist sowieso nur Augenwischerei, denn die Definition des Begriffes „Arbeitsplatz“ wurde in Zeiten von Minijobs und prekärer Beschäftigung neu interpretiert. Arbeit, das ist ist ein Kampfbegriff der Politik geworden, der mit den Verhältnissen auf dem Markt nichts mehr zu tun hat. Die politischen Lager – so es sie in unterschiedlicher Ausprägung überhaupt noch gibt – streiten sich über Zahlen, aber nicht über Inhalte. Die Tatsache, dass es in Deutschland heute ein paar tausend weniger Arbeitslose gibt als im letzten Monat, ist nichts als ein helles, blendendes Licht, das uns den Blick auf die Wirklichkeit raubt. Die Debatte um den Mindestlohn zeigt das ebenso wie die Lage der Rentner in Deutschland. Selbst mit einem gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro wären Arbeitnehmer kaum in der Lage, ausreichend Mittel für ihr Rentenalter zu generieren. Wenn man dies bedenkt, ist es eine Ungeheuerlichkeit, dass Arbeitgeber und ihnen zuarbeitende Ökonomen einen geringeren Mindestlohn als „Test“ fordern.



Panikmache mit dem Mindestlohn

 

Der „Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK)“ in Gestalt von Volkswirt Alexander Schumann macht deutlich, wie herablassend das Wort Arbeit inzwischen verwendet wird, ohne seinen eigentlichen Sinn zu berücksichtigen. Schumann rechnet im kommenden Jahr mit 250.000 neuen Jobs. Er begründet das mit der „guten Konjunktur“. Gleichzeitig warnt er vor einem Mindestlohn, und sei er nur 8,50 Euro hoch. Er spricht von einem „Unsicherheitsfaktor für Unternehmen“ und mahnt: „Kommt er, kann das die positive Entwicklung abwürgen.“

Der Zynismus dahinter müsste zur Folge haben, Schumann so schnell wie möglich vom Hof zu jagen, denn wenn er von einer positiven Entwicklung spricht, dann können damit de facto nur Jobs gemeint sein, die Arbeitnehmern weniger als 8,50 Euro die Stunde einbringen. Die Frage, für wen sich also die Entwicklung positiv gestaltet, ist rhetorisch.


Nach außen hin sind sich alle einig. Man muss von seiner Arbeit leben können. Tatsächlich ist die Politik aber darauf gar nicht ausgerichtet, und die Unternehmen sind es sowieso nicht. Die Zahl der Aufstocker nimmt weiter zu, viele Menschen müssen zwei, manchmal sogar drei Jobs machen, um sich über Wasser zu halten, und selbst dann reicht es nicht immer. Nirgends ist zu erkennen, dass Lösungsansätze gesucht werden, die die Fehlentwicklung des Arbeitsmarktes auch nur ansatzweise korrigieren könnten. Auch die Verhandlungen im Ringen um Posten zwischen der SPD und der CDU sind nichts anderes als ein Verwalten der derzeitigen Katastrophe, ohne sie anzugehen. Die SPD hat sich schon vor der Wahl zur Agenda 2010 bekannt, die maßgeblich für die derzeitige Misere verantwortlich ist. Die CDU hat die letzten Jahre umgesetzt, was sich Gerhard Schröder einst ausgedacht hat. Niemand derer, die da an den Verhandlungstischen sitzen, ist tatsächlich daran interessiert, dass die Menschen von ihrer Arbeit leben können. Ihnen geht es um sich selbst. Und um geschönte Arbeitslosenzahlen, hinter denen die Armut versteckt wird. Die Armut der heute arbeitenden Bevölkerung. Und die derer, die heute schon in Rente sind. Sie, die heutigen Rentner, sind der Beleg dafür, wohin die Entwicklung der letzten Jahre führt.


Immer mehr arme Rentner

 

Ein Blick an die Elbe – nach Hamburg, wo so viele Millionäre leben – macht deutlich, wohin die Reise geht. André Hatting, der Chef des Hamburger Landesverbandes im Sozialverband Deutschland, beobachtet schon seit 2005, dass die Zahl der Rentner, die zusätzliche Grundsicherung brauchen, kontinuierlich steigt. Zu einem vorerst traurigen Rekord kam es im Jahr 2012. Um 6,6 Prozent stieg der Anteil der Rentner, die auf zusätzliche Leistungen vom Staat angewiesen sind. Für Hatting sind die Gründe klar. Die meisten Menschen sind schon seit längerem nicht mehr in der Lage, während der Erwerbstätigkeit ausreichen finanzielle Mittel für das Alter anzusparen. Hinzu kommen Erwerbsminderungsrenten, Alleinstehende und Frauen, die besonders von Altersarmut betroffen sind. Hatting spricht sich für einen Mindestlohn und eines Mindestrente aus.

Doch der Trend geht weiter in Richtung Armut, und es ist viel schlimmer als es zunächst scheint, denn in keiner Statistik tauchen all jene Rentner auf, die zu stolz sind, um staatliche Hilfe zu beantragen oder die sich schlicht nicht trauen oder sich schämen. Die Dunkelziffer der Menschen im Alter, die arm sind und von der Hand im Mund leben müssen, dürfte also deutlich höher sein als die ohnehin schon erschreckenden Werte, die Hatting nennt. Er siedelt die Armutsgefährdungsquote in Deutschland zwischen 15,5 und 16 Prozent an. Bei den Rentnern über 65 Jahre liegt sie mit 14 Prozent knapp unter dem Bevölkerungsschnitt. Sieht man sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt an, muss man kein Prophet sein, um zu erahnen, wohin sich die Quote in Zukunft entwickeln wird. Für die alten Menschen bedeutet das, jeden Cent zweimal umdrehen zu müssen, sich auf das Nötigste zu beschränken und Hilfe anzunehmen, wo sie sie erhalten. Doch die ist übersichtlich, und Hamburg zeigt auch hier, was für ein schlechtes Vorbild die Stadt ist. 


„Kalte Küche“ in Hamburg-Dulsberg

 

Die Sozialküche „Pottkieker im Hamburger Stadtteil Dulsberg hilft Rentnern, die in finanzieller Not sind. Mehr als 100 von ihnen nehmen das Hilfeangebot, einmal am Tag dort Mittag zu essen, gern an, nicht nur, weil sie wenig Geld haben, sondern auch, weil sie im „Pottkieker“ soziale Kontakte pflegen, andere Menschen treffen, sich austauschen und reden können. Wer im Alter kein Geld hat, steckt nicht nur finanziell in der Sackgasse. Oft vereinsamen arme Menschen auch. Deshalb ist der „Pottkieker“ zweifach wichtig. Doch die Stadt Hamburg setzt ihre Prioritäten offenbar woanders. Sie will den „Pottkieker“ schließen, weil es für die Weiterführung angeblich an Geld fehlt.
Der Wert von Arbeit? Oder der einer Lebensleistung? Beides sind nur hohle Phrasen, die im Wahlkampf oder beim politischen Kräftemessen verwendet werden, um sich als Partei oder Politiker gut zu positionieren. Der „Pottkieker“ zeigt exemplarisch auf, wohin wir uns entwickeln – in ein Land, das immer mehr arme Menschen hat und haben wird.


Hilfe? Die ist eher nicht zu erwarten.


Quelle: spiegelfechter

Dienstag, 29. Oktober 2013

Sahra Wagenknecht: Verhältnis zu den USA neu ordnen

Berlin (fhb) - 

Sahra Wagenknecht
"Deutschland muss das Verhältnis zu den USA neu ordnen. Das geplante Freihandelsabkommen der EU mit den USA muss beerdigt werden", erklärt Sahra Wagenknecht zur Abschöpfung von Telefonaten der Bundeskanzlerin durch die US-Sicherheitsbehörde NSA sowie zur Debatte um das transatlantische Verhältnis. 

Die Erste Stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE weiter: 

"Das Handy-Gate ist keine Privatsache der Bundeskanzlerin. Es geht vorrangig um die Interessen von Millionen Bundesbürgern. Eine Kanzlerin, die beim Datenschutz auf EU-Ebene bremst, verletzt ihren Amtseid. Noch wichtiger als das, was US-Präsident Barack Obama über die Abhöraktion wusste, ist zudem, was der Bundesnachrichtendienst (BND) und die Bundekanzlerin wussten. Dies wird für DIE LINKE im Mittelpunkt des Interesses eines NSA-Untersuchungsausschusses stehen. 

Das Problem mit den USA löst man weder per SMS noch durch Telefonate mit Obama. DIE LINKE fordert die Neuordnung des Verhältnisses zu den USA. Die relevanten Abkommen zum Datenaustausch mit den USA müssen gekündigt und die geheimdienstliche Zusammenarbeit gestoppt werden. Die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen müssen beendet werden: Es nutzt den großen Banken und Konzernen, treibt die Liberalisierung der Finanzmärkte und die Verbreitung der Gentechnik voran. 

Die Investitionsschiedsgerichtsbarkeit ist ein Angriff auf Arbeitsnormen und ökologische Standards. DIE LINKE erwartet darüber hinaus nach Rechtslage strafrechtliche Ermittlungen der Bundesanwaltschaft gegen die für die Spionage Verantwortlichen."

Montag, 28. Oktober 2013

Die verrohte Bürgerlichkeit - Der Ökonom als Menschenfeind

Verantwortlich:

Quelle: NachDenkseiten  

Über gesellschaftliche Verrohung und die etablierte ökonomische Theorie
Ein Interview mit dem Volkswirt und Wirtschaftsethiker Sebastian Thieme über Fragen nach der Entsolidarisierung der Gesellschaft etwa durch die Hartz-Reformen, nach dem Menschenbild hinter den vorherrschenden ökonomischen Lehren, nach der Ökonomisierung der Gesellschaft und der ethischen Verantwortung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Das Interview für die NachDenkSeiten führte Jens Wernicke.



Herr Thieme, Sie arbeiten seit Längerem über das Thema der sogenannten „rohen Bürgerlichkeit“. Um was genau handelt es sich bei diesem Phänomen – und in welchem Zusammenhang steht es mit Prekarisierung, Hartz IV etc.?


Sebastian Thieme
Der Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer hat den Begriff „rohe Bürgerlichkeit“ verwendet, um zum Ausdruck zu bringen, dass sich unsere Gesellschaft zunehmend entsolidarisiert. Vor allem die „Eliten“ meinen, sie würden bereits viel zu viel für die Gesellschaft tun, der Staat behandle sie ungerechtund dieSchwachen sollten sich gefälligst selber helfen. 

Zur Wahrheit gehört aber ebenso, dass sich auch die unteren Gesellschaftsgruppen untereinander mehr und mehr entsolidarisieren. Die von Ihnen erwähnten Hartz-Reformen lassen sich dabei als Instrument einer institutionalisierten Entsolidarisierung bezeichnen. Der Staat bzw. die Gesellschaft konfrontieren die Bedürftigenständig mit dem Vorwurf des Sozialmissbrauchs und stellen die Solidarität unter den umfassenden Vorbehalt einer „Unbedenklichkeitsprüfung“. Dazu gehört die obligatorische Prüfung der Bedürftigkeit, die von vielen Betroffenen in ihrer Praxis bereits als entwürdigend empfunden wird. Aber auch die Vorladungen in Jobcenter, die Residenz-, Ab- und Rückmeldepflichten sowie die sogenannten Einstellungsvereinbarungen zählen dazu. Diese Auflagen selbst sind bereits entsolidarisierend, d. h. die Solidarität steht unter dem Vorbehalt der Einhaltung dieser Auflagen. In Ihnen zeigt sich das eben beschriebene Misstrauen gegenüber den Bedürftigen. Letztlich sollen diese Maßnahmen allesamt disziplinierend bzw. erzieherisch wirken. Das wiederum geht offenbar mit einer Haltung einher, wonach „Bedürftige“ oft gar keine Hilfe benötigen, sich selbst helfen könnten – ihnen damit aber ebenso oft unterstellt wird, sich lieber helfen lassen zu wollen, weil das bequemer ist – und schlussendlich gar nicht so viel Solidarität nötig wäre.

Aber auch der Umstand, dass derartige „Reformen“ überhaupt möglich waren, zeugt bereits von einem Klima der Entsolidarisierung. Hinzu tritt, dass die Notwendigkeit solcher „Reformen“ mit negativen Menschenbildern begründet wurde und bis heute noch wird. Denken Sie nur an solche Aussprüche wie „Nur wer arbeitet, soll auch essen“. Oder an Ex-Kanzler Schröder, der damals im Bundestag meinte, dass in Deutschland kein Platz für Faulheit sei. Sein damaliger Superminister Clemens malte dann überdeutlich das Gespenst des Sozialmissbrauchs an die Wand und setzte dem Ganzen noch die Krone auf, indem er die Bezieher von Sozialtransfers mit „Parasiten“ verglich. Wortwörtlich hieß es auf Seite 10 des damaligen Reports des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit „Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, ‚Abzocke‘ und Selbstbedienung im Sozialstaat“ [PDF - 183 KB]:
„Biologen verwenden für ‚Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen – ihren Wirten – leben‘, übereinstimmend die Bezeichnung ‚Parasiten‘. Natürlich ist es völlig unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen. Schließlich ist Sozialbetrug nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom Willen des Einzelnen gesteuert.“
Denken Sie auch an das überaus populäre Bild von Beziehern von Sozialtransfers, die – im Jargon von Oswald Metzger – das Geld lieber in Alkoholika und Kohlehydrateinvestieren würden als bspw. für die Bildung ihrer Kinder. Solche zynischen Sprüche charakterisieren den Wirkungsbereich der „rohen Bürgerlichkeit“.Letztlich geht es um Stigmatisierung, Abwertung und Menschenfeindlichkeit – und zwar, zumindest in diesen Beispielen, „von oben herab“, d. h. dass gut situierte Personen der Öffentlichkeit stigmatisierten und abwerteten.

Die prekären Lebensbedingungen im Niedriglohnbereich und in der Zeitarbeit spielen jedoch ebenso eine Rolle. Nur werden dort die Bedürftigen eben gegeneinander ausgespielt. Niedriglöhner werfen dann z. B. den Beziehern des Arbeitslosengeldes II Faulheit vor usw. usf. Innerhalb von Unternehmen wirkt zudem zunehmend die Spaltung zwischen Stammbelegschaft und Leiharbeitern: Die „Privilegien“ der unbefristeten Normalarbeit werden dann – anstatt sich etwa für gute und sichere Arbeitsbedingungen für alle einzusetzen – gegen die „Fremden“ verteidigt, indem diese abgewertet und ausgegrenzt werden. Die prekäre Situation scheint die Betroffenen so sehr mit dem Rücken an die Wand zu stellen, dass sie für die prekäre Situation der anderen schließlich immer weniger empfänglich werden. Um sich vom Rand abzugrenzen wird nach Sündenböcken oder Gegnern gesucht. Dort, wo Solidarität geübt werden müsste, herrschen dann eher Misstrauen, Konkurrenz und Angst.

Einige aktuelle Forschungen lassen sogar einen allgemeinen Empathierückgang in unserer Gesellschaft vermuten. Diese Beobachtungen gehen dabei über das hinaus, was die soziologische Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ bereits in den 1930er Jahren ergab. Dass nämlich die sozio-psychologischen Wirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit nicht – wie vielfach angenommen – zu Revolte, sondern vielmehr zu passiver Resignation führen.

Verstehe ich das richtig: Umso mehr sich Armut und Unsicherheit ausbreiten, umso mehr neigen die Menschen zu Entsolidarisierung und Ausgrenzung, rationalisieren diese Haltung dann aber, um ihr eigenes Verhalten als „anständig“ verstehen und bewerten zu können?

„Anständig“ trifft es nicht ganz. Mit „vernünftig“ oder „ökonomisch vernünftig“ scheint mir das besser umschrieben zu sein. Und ja, eine Tendenz zur Entsolidarisierung, Ausgrenzung und zur rational-ökonomischen Denkhaltung in den unteren Etagen der Gesellschaft legen entsprechende Studien nahe.

Zeitgleich zu einer Bündelung des Reichtums in immer weniger privaten Händen und einer Zunahme gesellschaftlicher Armut ist also zu konstatieren, dass die Not der Ärmeren zunimmt, diese aber in aller Regel auf die „Erklärungsmuster von oben“, die ihnen ihren Nächsten als Konkurrenten und Gefahr andienen, hören und überdies aufgrund der Zunahme von Stress und Angst im eigenen Leben auch immer weniger, lassen Sie es mich so sagen, „Ressourcen zur Empathie für andere“ aufzubringen vermögen?

So in etwa, ja. Der Stress und die Angst, die Sie ansprechen, beide sind Elemente der Konkurrenz, der Rivalität mit den Mitmenschen. Je stärker der Wettbewerb, desto stärker der Stress und die Ängste.
Unter diesem Wettbewerbsdruck ist für Empathie kein Platz mehr. Wir könnten auch sagen: Unter Wettbewerbsbedingungen, in der jeder Mensch mit seinen Mitmenschen konkurriert, wird Empathie „wertlos“ oder „sinnlos“. Ressourcen werden dann nicht für Empathie aufgebracht, sondern dafür, in diesem Wettbewerb zu „überleben“. Damit haben die Betroffenen ohnehin genug zu tun. Das mag im ersten Moment etwas pathetisch klingen, aber denken Sie einfach an jene prekär Beschäftigten, die am Rande ihrer physischen und psychischen Existenz agieren. Außerdem steigt die allgemeine Armutsbedrohung der Menschen laut Statistischem Bundesamt seit Jahren an: 2005 waren 12,2 Prozent der Bevölkerung von Armut gefährdet; 2011 waren es bereits 16,1 Prozent, das heißt jeder sechste Bürger im Land. Den Betroffenen bleibt da sicher nicht viel Muße, um sich um andere zu kümmern. Wer mag ihnen das in dieser Situation vorwerfen?

Ich möchte Ihnen gleich ein paar Fragen zur ökonomischen Theorie stellen. Lassen Sie mich aber vorher noch auf einen Sachverhalt kommen, dessen Klärung für die Diskussion hilfreich sein kann: Sie sprechen in Ihrem Buch und ihren Beiträgen von ökonomischen Theorien. Doch in der Debatte um die Wirtschaftswissenschaften wird häufig von der ökonomischen Theorie gesprochen, ganz so, als ob es nur eine Theorie gäbe. Könnten Sie das kurz erklären?

Das liegt an der begrifflichen Unschärfe. Wenn „die“ ökonomische Theorie kritisiert wird, dann lässt sich das in aller Regel als die Kritik an der vorherrschenden ökonomischen Lehre bzw. am ökonomischen „Mainstream“ übersetzen. Dies umfasst nicht eine einzige Theorie, sondern steht allgemein für Ansätze, Ideen und wissenschaftliche Verfahren, die durch Lehrstühle vertreten und fester Bestandteil der Lehrbücher sind, die in Fachzeitschriften diskutiert werden und die sich auch der Förderung durch Stiftungen bzw. der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) erfreuen können. Alle ökonomische Wissenschaft abseits dieser „vorherrschenden Lehre“ wird in der Diskussion als „heterodox“, „post-autistisch“, „alternativ“ oder „kritisch“ bezeichnet.
Die Wirtschaftswissenschaften sind also insgesamt nicht einheitlich, sondern werden für gewöhnlich in sogenannte „Schulen“ unterschieden, die wiederum ganz eigene Theorien bzw. Ansätze vertreten. Beispielhaft seien Marx und Keynes genannt, mit denen die breitere Öffentlichkeit vielleicht noch etwas anfangen kann. Neo-Ricardianer, Evolutionsökonomen, Alt-Institutionalisten, Wirtschaftsstilforschung usw. sind sicher viel weniger bekannt, stellen aber ebenfalls „Schulen“ dar.
Allerdings ist auch zu beachten, dass selbst diese „Schulen“ selbst nicht einheitlich auftreten müssen. Friedrun Quaas von der Universität Leipzig hat das kürzlich sehr anschaulich für die „erste Generation“ der Österreichischen Schule gezeigt.

Trotz Ihres letzten Einwandes scheint die Unterscheidung nach ökonomischen Schulen durchaus populär. Wie sieht es mit der „Neoklassik“ aus? Der ökonomische Mainstream wird doch häufig als „neoklassisch“ bezeichnet, oder nicht?

Das stimmt. Viele Kritikerinnen und Kritiker des Mainstreams behaupten, diese vorherrschende Lehre wäre „neoklassisch“. Doch aus der ideengeschichtlichen Perspektive ist der Begriff „Neoklassik“ für eine Strömung reserviert, die am Ende des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts existierte.
Sicherlich hat sie die Wirtschaftswissenschaften insgesamt geprägt. Die heute oftmals kritisierte Mathematisierung der Ökonomik wurde maßgeblich von dieser Strömung vorangetrieben. Außerdem zählen neoklassische Modelle noch immer zum Standard der ökonomischen Lehrbücher. Auch die Politik greift gerne auf die Modelle zurück. Wenn es z. B. um die Ablehnung eines Mindestlohnes oder der Erhöhung von Sozialtransfers geht, dann steht dort das neoklassische Modell des Arbeitsmarktangebotes Pate.
Aber seit dem beginnenden 20. Jahrhundert hat sich in der Ökonomik viel getan. Nehmen Sie z. B. die neoklassische Annahme vollständiger Informationen. Die heutigen Ansätze gehen in aller Regel von unvollständigen und ungleich verteilten Informationen aus. Und dort, wo einstmals vollständige Rationalität unterstellt wurde, wird heute mit „bedingter“ Rationalität gearbeitet. Selbst Kritikerinnen und Kritiker des ökonomischen Mainstreams kommen deshalb nicht umhin, neben der Neoklassik noch andere Strömungen aufzuzählen, die zum Mainstream gehören sollen, z. B. die Neue Institutionenökonomik oder die Verhaltensökonomik. Von der vermeintlichen Dominanz der „Neoklassik“ bleibt dann aber nicht mehr viel übrig.

Was ist dann aber der „Mainstream“ oder „vorherrschende Lehre“?

Das ist eine gute Frage, über die meine Linzer Kollegin Katrin Hirte und ich uns innerhalb eines Projektes [PDF - 735 KB], das von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wird, auch den Kopf zerbrochen haben. Ich selbst tendiere dazu, unter „Mainstream“ ein Sammelsurium von sich zum Teil sogar widersprechenden Theorien, Ansätzen, Forschungsthemen und wissenschaftlichen Verfahren zu verstehen, die in der universitären Lehre vertreten, bevorzugt gefördert und publiziert werden. In der Summe geht es also nicht um „die eine“ Theorie oder „den einen“ Ansatz, sondern um einen ganzen Strauß an Ideen, die nach außen hin auch häufig den Anschein einer recht vielfältigen Ökonomik erwecken. Diese Scheinvielfalt zu erörtern würde hier aber den Raum sprengen. Lassen Sie es mich so zusammenfassen: Gemeinsam ist diesen Strömungen, dass sie deduktiv vorgehen, sich auf mathematisch-formale Verfahren und Modellierungen konzentrieren, den sogenannten „methodologischen Individualismus“ zugrunde legen (d. h. ökonomische Vorgänge nur vom Handeln der Einzelnen aus betrachten bzw. auf den Einzelnen „rückrechnen“) und einen gewissen Dogmatismus an den Tag legen.

In Ihrem soeben erschienenen Buch gehen Sie auch der Frage nach, inwiefern die (vorherrschende) Ökonomik ganz grundlegend auf einem negativen Menschenbild fußt und somit Gesellschaft mehr oder minder auch nur als Summe sich bekämpfender Individuen zuerst einmal zu denken und dann aufgrund eben dieser theoretischen Prämissen auch ebenso zu gestalten vermag. Was haben Sie untersucht und zu welchen Schlüssen kamen Sie dabei?

Zunächst, das von Ihnen angesprochene Menschenbild ist eines der Elemente innerhalb ökonomischer Theorien, das gegen die menschliche Integrität, Würde und Gleichwertigkeit verstößt. In dem Zusammenhang spreche ich auch von ökonomischer Menschenfeindlichkeit bzw. Misanthropie.
Jedenfalls lässt sich unter Wirtschaftswissenschaftlern/innen immer wieder eine persönliche Haltung beobachten, die das von Ihnen angesprochene negative Menschenbild durchblicken lässt. So wurden Bettler und ärmere Schichten praktisch seit jeher als unproduktiver Ballast der Gesellschaft betrachtet respektive konstruiert.
Die Einstellungen „älterer“ Ökonomen wie etwa Joseph Townsend oder Robert Malthus sind dabei gar nicht weit von jenen Haltungen entfernt, mit denen sich heutzutage Wissenschaftler wie Gunnar Heinsohn oder Thilo Sarrazin in den Medien präsentieren.
Worauf ich deshalb mit den Beispielen in meinem Buch hinweisen wollte, war, dass es genügend Anlass dazu gibt und es notwendig ist, der Frage nachzugehen, inwiefern sich solche Haltungen und Stereotype auch in ökonomischen Theorien niederschlagen. Diese Frage war im Buch zwar nicht abschließend zu klären, aber viele Beispiele deuten darauf hin, dass die Aussagen von Ökonomen weit weniger „wert
frei“ oder „neutral“ sind, als sie das von ihrer Wissenschaft in der Regel behaupten. Aber wie gesagt, das muss noch eingehender untersucht werden.

Das negative Menschenbild ist nur ein Aspekt von dem, was Sie in Ihrem Buch als ökonomische Menschenfeindlichkeit bzw. Misanthropie bezeichnen. Welche anderen Elemente stellen – wie Sie schreiben – die Würde, Integrität und Gleichwertigkeit von Menschen infrage?

Nehmen Sie z. B. die Idee des Wettbewerbs. Dieser produziert immer Gewinner und Verlierer. Dadurch entstehen aber immer auch Unglei
chheiten, die auch noch bewertet werden. Anders formuliert: Wettbewerb produziert Ungleichwertigkeiten. Denn die „Sieger“ oder „Gewinner“ sind „mehr wert“, „erfolgreicher“, „produktiver“ usw. als jene, die den Wettbewerb verloren haben. Über diese Ungleichwertigkeiten wird in der Ökonomik aber kaum nachgedacht. Dabei zielt das auf ganz zentrale wirtschaftsethische Fragen ab: Wie viel Wettbewerb wollen wir uns zumuten? Wo wollen wir Wettbewerb zulassen? Wo ist er unzumutbar?
Ein anderes Beispiel ist die Prinzipal-Agenten-Theorie, die ungleich verteilte Informationen unterstellt und davon ausgeht, dass Menschen ständig ihre Mitmenschen übers Ohr hauen. Damit zwingt diese Theorie den menschlichen Beziehungen ein „rationales“ Misstrauen auf. Das finden Sie dann z. B. im Hartz-IV-Regime umgesetzt, wo faktisch ein chronisches Misstrauen gegenüber den Bedürftigen besteht. Am Beispiel Hartz-IV zeigt sich vor allem, wie durch dieses institutionalisierte Misstrauen die Menschenwürde und Integrität der Betroffenen (ihre Selbstbestimmung) immer wieder in Zweifel gezogen wird.
Fragwürdig ist ebenso das Modell des neoklassischen Arbeitsmarktangebotes, das den Erwerbslosen unterstellt, freiwillig in die Erwerbslosigkeit zu gehen und es sich in der sozialen Hängematte bequem zu machen. Die „Wirtschaftsweisen“ verwendeten noch 2010 dieses einfachste Modell, um gegen eine Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze zu argumentieren. Zu bedenken ist dabei, dass diese Regelsätze das soziokulturelle Existenzminimum abdecken sollen und eine Erhöhung praktisch diesem Ziel dienen soll – eine Erhöhung der Regelsätze dient dazu, die Sozialtransfers an höhere Preise usw. (z. B. durch Inflation) anzupassen und dadurch das soziokulturelle Existenzminimum an die Entwicklung anzupassen. Bei den erwähnten Vorschlägen der „Wirtschaftsweisen“ ging es aber vor allem um die ökonomische Anreizwirkung der Regelsätze. Die Regelsatzhöhe wurde unter den Blickwinkel der ökonomischen Anreizwirkung gestellt und diente offenbar nicht mehr der Gewährleistung des Existenzminimums, also der Achtung der Menschenwürde.
Es lassen sich also eine Reihe von Hinweisen zusammentragen, die belegen, dass die derzeit vorherrschende Ökonomik auf recht grundlegende Art und Weise menschenfeindliche Züge trägt. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die in der Ökonomik verwendeten abstrakten mathematischen Gleichungen, die Graphen oder die Spieltheorie auch noch dafür sorgen können, dass derlei negative Effekte aus dem Blick geraten können.

In Ihrem Buch widmen Sie aber auch ein Kapitel dem Thema „Ökonomik und Ethik“, wo Sie deutlich aufzeigen, dass beides – Ökonomik und Ethik – kein Widerspruch sein muss und in der Ökonomik auch Ansätze existieren, wie sich diese Elemente der Menschenfeindlichkeit auffangen oder eingrenzen ließen. Können Sie kurz erläutern, an welche Sie da im Speziellen denken?

In erster Linie an Adam Smith, der in seiner „Theory of Moral Sentiments“ das Gefühl der „Sympathie“ beschrieb, also mit dem Mitmenschen „mitfühlen“ zu können. Das ist in etwa auch das, was die breitere Öffentlichkeit vom Kategorischen Imperativ Immanuel Kants her kennt: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Stellen Sie sich also mal vor, wie Empfehlungen von Ökonomen zum Sozialstaat oder zum Arbeitsmarkt ausfallen würden, wenn sie sich in redlicher Weise tatsächlich darum bemühen, nur Empfehlungen zu geben, die sie auch gegen sich selbst gelten lassen würden.
Ähnliche Aspekte finden sich bei Johann Heinrich von Thünens Lohnfrage am Rande seines „isolierten Staates“ von 1850. Dort standen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf Augenhöhe gegenüber und verhandelten den Arbeitslohn mit Blick auf die Bedürfnisse der Arbeitskräfte und in freier Selbstbestimmung.
Einen neueren Ansatz bietet die Integrative Wirtschaftsethik nach Peter Ulrich. Auch dort wird gefordert, anderen nur solche Regeln, Gesetze etc. zu empfehlen, die jemand auch bezogen auf sich selbst als zumutbar empfindet. Zu beachten ist außerdem, dass das eigene Handeln bzw. das empfohlene Handeln von Dritten als unzumutbar empfunden werden kann. Letztlich wird auch ein zumutbares Maß an Mitverantwortung für Effekte gefordert, die nicht beabsichtigt waren, aber andere beeinträchtigen – das spielt vor allem mit Blick auf Dinge wie Umweltverschmutzung eine wichtige Rolle. Auch mit diesem Ansatz ließe es sich vermeiden, dass die Gleichwertigkeit, Integrität und Würde der Mitmenschen verletzt wird.

Lässt sich vor diesem Hintergrund nicht auch eine ethische Verantwortung seitens der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einfordern?

Richtig, genau das ist der Punkt. Die etablierten Ökonominnen und Ökonomen von heute müssen sich deshalb den Vorwurf gefallen lassen, dass sie die wirtschaftsethischen Aspekte von Theorien häufig gar nicht erst thematisieren.
Ich spreche diesbezüglich bewusst von den etablierten Vertreterinnen und Vertretern unserer Zunft, da ich diesen Vorwurf nicht so einfach an die Studierenden weiterreichen möchte. Denn woher sollen diese die wirtschaftsethischen Überlegungen von Adam Smith usw. oder gar die Integrative Wirtschaftsethik kennen, wenn so etwas nicht gelehrt wird? Woher soll die Sensibilität für wirtschaftsethische Fragen kommen, wenn die Lehrer selbst keinerlei derartige Sensibilität an den Tag legen oder – im Gegenteil – sich gegen ethischen Fragen dadurch immunisieren, dass sie angeblich eine „wertfreie“ Wirtschaftswissenschaft vermitteln?

Das klingt ähnlich dem, was der amerikanische Ökonomen Philip Mirowski am Anfang dieses Jahres mit Blick auf die ökonomische Theoriegeschichte äußerte: Die ökonomische Ideengeschichte wäre praktisch aus den Universitäten vertrieben worden. Wie sehen Sie das?

Genau so, denn es deckt sich auch mit meiner Beobachtung. Die Fachexpertise, um sich über ideengeschichtliche Themen auszutauschen, hält sich in sehr überschaubaren Grenzen. Es existieren nicht viele Lehrstühle, die ökonomische Ideen- oder Theoriegeschichte praktizieren. Und wenn junge Wissenschaftler/innen selbst einmal ideengeschichtlich forschen wollen, sind sie damit konfrontiert, dass behauptet wird, diese Forschung würde keinen Erkenntnisgewinn bringen. Im Grunde müssen sie sich sogar fast schon dafür rechtfertigen, wenn sie mal keine Formeln produzieren und stattdessen so dreist sind, das Textverständnis ihrer Kolleginnen und Kollegen „unnötig“ zu strapazieren.
Das wirkt sich dann natürlich negativ auf die Möglichkeiten aus, innerhalb der Universitäten auch die wirtschaftsethischen Aspekte der ökonomischen Theorien zu vermitteln. Denn es existieren in der Ökonomik ja tatsächlich Ansätze, die die negativen Effekte der Theorien zumindest eindämmen könnten. Die Ökonomik muss also gar nicht menschenfeindlich sein! Das ist mir besonders wichtig, da ich nicht dahingehend missverstanden werden möchte, einseitig auf die Ökonomik einschlagen zu wollen.
Jedenfalls wäre es in dem Kontext notwendig, die Fächer Wirtschaftsethik und ökonomische Ideengeschichte als Pflichtfächer im Studium zu etablieren und entsprechende Lehrstühle einzurichten. Leider sind wir davon aber weit entfernt.

Lassen Sie mich noch einmal auf das negative Menschenbild zurückkommen. Würden Sie so weit gehen und sagen, dass sich dieses negativ-ökonomische Menschenbild immer weiter ausbreitet und aktuell gesellschaftliche Bereiche durchdringt, die bisher frei davon gewesen sind? Oder anders: Hat sich die neoliberale Wettbewerbsideologie auch auf nicht-ökonomische Bereiche ausgedehnt? Und wenn ja, dann wie und wo?

Sie zielen mit Ihrer Frage auf die sogenannte Ökonomisierung unserer Gesellschaft ab. Ich würde das nicht allein am Menschenbild festmachen wollen. Denken Sie z. B. an die Ökonomisierung im Hochschulbereich: Da geht es vor allem um die Quantifizierung, Bewertung und Verwertung von „Qualität“ (z. B. der Forschung), um schnellere und vermeintlich „effizientere“ Studienabläufe. Hochschul- und Forschungsrankings, Credit Points usw. sind die entsprechenden Schlagworte.

Aber ja, Sie finden das von Ihnen erwähnte negative Menschenbild in verschiedenen Bereichen des Alltags. Denken Sie z. B. an diese Modekette „Hollister“, die ihren Mitarbeitern so sehr misstraute, dass sie ihren Toilettengang kontrollieren wollte. Durchsetzen konnte sich das Unternehmen zum Glück nicht. Aber allein das Vorhaben zeigt, wie das Management über die eigenen Angestellten denkt.

Ähnliches lässt sich auch im Bereich des Sozialstaates beobachten. Nehmen Sie bspw. die Forderung, Sachleistungen statt Geld an Hilfsbedürftige zu verteilen. Dort schwingt ja immer das Vorurteil mit, die Bedürftigen könnten mit dem Geld nicht umgehen und würden es für sonstwas ausgeben. Eine wertschätzende Beziehung auf Augenhöhe sähe anders aus!
Neben diesem Menschenbild können wir auch nicht die Augen davor verschließen, dass der Mensch ganz allgemein zunehmend unter dem Druck steht, sich „am Markt“ zu verwerten. Er muss ständig mobil, flexibel und erreichbar sein. Er steht immer in der Gefahr, als Kostenfaktor „minimiert“ also abgewertet und entwertet zu werden. Rein ökonomisch wird außerdem häufig argumentiert, dass jede Bildungsausgabe eine „Investition“ ins eigene „Humankapital“ darstellt. Die Appelle, in die Bildung und die eigene Bildung zu investieren, sind ja wohlbekannt. 

Insofern befinden sich die Menschen von heute im Hamsterrad eines permanenten Optimierungsmodus und sie sind damit konfrontiert, immer häufiger ein ökonomisches Nutzenkalkül an den Tag zu legen. Aus Mangel an Alternativen ist dies mehr oder minder zugleich eine Überlebensnotwendigkeit.
Dieses Nützlichkeitsdenken unterminiert aber gleichzeitig unsere sozialen und ethischen Werte, da es diese Werte unter den Vorbehalt der ökonomischen Nützlichkeit stellt. Galt die Menschenwürde einstmals als unbedingtes Grundrecht, so droht sie, nur doch dort gewährt zu werden, wo sie „nützt“. Damit sind jene Werte, die als unbedingt gelten sollen, nicht mehr unbedingt, d. h. sie stehen nur noch einem Teil der Menschen zu – nämlich jenen, die wir als „nützlich“ empfinden. Analog dazu wird also Solidarität zunehmend nur noch dort praktiziert, wo es uns ökonomisch nützt bzw. wo sie sich „verwerten“ lässt.

Damit sind wir wieder am Anfang Ihrer Fragen. Meine These ist, dass in dem Maße, wie wir die Ökonomisierung unserer Lebensbereiche zulassen, sich dieses rational-kühle Menschenbild immer weiter ausbreitet und möglicherweise zunehmend an die Stelle anderer wichtiger gesellschaftlicher und humaner Werte tritt. Das bedeutet aber auch: Wir befinden uns in der Gefahr, immer weniger wie Menschen miteinander umzugehen.

Kann man darin eine Rückkehr des Sozialdarwinismus sehen? Oder lassen Sie es mich anders formulieren: Wird damit letztlich nicht das Recht der Stärkeren forciert?

Ja, hinter der eben erwähnten Entwicklung steht spürbar die Idee des natürlichen Daseinskampfs, in dem nur die Stärksten überleben. In gewisser Weise ist das aber auch ein banaler Zusammenhang: Mehr Wettbewerb bedeutet eben mehr Konkurrenz, mehr Auslese und stellt damit eine Rechtfertigung für das Recht der Stärkeren dar.
Ob es sich bei dieser Tendenz um eine Rückkehr handelt, das bezweifle ich jedoch. Denn das würde voraussetzen, dass es einmal eine Zeit gegeben hat, in der dieses Verständnis von „Sozialdarwinismus“ nicht galt. Genau das glaube ich ehrlich gesagt nicht.

Aber Sie haben Recht, es lässt sich beobachten, dass trotz der Finanzkrisen der letzten Jahre das Gerede vom „Wettbewerb“ und der „Wettbewerbsfähigkeit“ die Oberhand gewonnen hat. Das impliziert das von Ihnen erwähnte „Recht der Stärkeren“. Die Frage, ob wir uns z. B. in Europa überhaupt den Stress einer Konkurrenz zwischen den nationalen „Standorten“ antun wollen, wie viel Konkurrenz wir als zuträglich und zumutbar erachten, auch mit Hinblick auf die Selbsterhaltungsfähigkeit anderer Euro-Länder, diese Probleme scheinen mir momentan hinter die Wettbewerbsphrasen zu treten. Fast unbemerkt wird damit auch die Frage nach einer Europäischen Solidarität oder – anders ausgedrückt – nach Europäischen Sozialstandards in den Hintergrund gedrängt. 

Sehen Sie einen Ansatz, diesen Prozess rückgängig zu machen?

Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Sicherlich wäre dazu ein Mix an verschiedenen Maßnahmen notwendig, allen voran natürlich mit Blick auf die Bildung und Erziehung.
So könnte ein wichtiger Beitrag bereits darin bestehen, die ökonomische Lehre zu verändern. Lehrstühle für Wirtschaftsethik und ökonomische Theoriegeschichte zu etablieren, die sich vielleicht auch verstärkt interdisziplinär betätigen, das wäre z.B. eine Möglichkeit.
Wenn Sie mich nach konkreten Ansätzen innerhalb der ökonomischen Theorie fragen, dann wäre schon viel geholfen, wenn etablierte Ökonominnen und Ökonomen die erwähnte „Sympathy“ von Adam Smith oder die „Soziale Irenik“ – also die friedensstiftende Funktion etwa im Sinne von Alfred Müller-Armack – im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft beherzigen würden, bevor sie sich wieder zu Themen wie Arbeitslosengeld II, Sparmaßnahmen im Sozialstaat usw. äußern.

Vielen Dank für das Gespräch. 

Dr. rer. pol. Sebastian Thieme, Jahrgang 1978, ist Volkswirt und derzeit Mitarbeiter am Zentrum für Ökonomische und Soziologische Studien an der Universität Hamburg. Er forscht zu Heterodoxie und Orthodoxie, Ökonomischer Misanthropie, Subsistenz(-ethik), Wirtschaftsethik, Wirtschaftsstilforschung und Ökonomischer Ideengeschichte.
Das Interview führte Jens Wernicke.

Quelle: NachDenkseiten.de

 

Sonntag, 27. Oktober 2013

Menschenrechtsinstitut empfiehlt NSA-Untersuchungsausschuss

Berlin (fhb) - 

Das Deutsche Institut für Menschenrechte empfiehlt dem neu gewählten Bundestag nachdrücklich, einen Untersuchungsausschuss zu den NSA-Aktivitäten einzusetzen, um aufzuklären, ob deutsche Behörden hinreichenden Schutz des Telefon- und Internetverkehr in und aus Deutschland sicherstellen. Dies sollte bereits in einem Koalitionsvertrag verankert werden.

Dazu erklärt die Direktorin des Instituts, Beate Rudolf: "In den vergangenen Monaten haben Berichte über das millionenfache Abgreifen von Internetkommunikation und das Abhören von Telefonaten durch die Nationale Sicherheitsagentur der USA (NSA) und das britische Government Communications Headquarter (GCHQ) deutlich gemacht, dass das Kommunikationsgeheimnis und der Schutz der Privatsphäre Menschenrechte, die für eine demokratische Gesellschaft grundlegend sind missachtet wurden. Die von den USA und dem Vereinigten Königreich bislang vorgebrachte Begründung, diese Maßnahmen dienten der Terrorismusbekämpfung, vermag nicht zu überzeugen. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass unbestritten Regierungen bis hin zur deutschen Bundeskanzlerin, internationale Organisationen und diplomatische Missionen Ziele von Abhörmaßnahmen waren. Der Umfang der Ausspähaktionen und die Reichweite der Zusammenarbeit der deutschen Behörden mit der NSA und dem GCHQ bedürfen dringend der Aufklärung. 

Denn Regierung und Parlament sind menschenrechtlich verpflichtet, den Schutz des Kommunikationsgeheimnisses und der Privatsphäre für alle Menschen in Deutschland zu sichern. Telefonate per Festnetz, Handy oder Skype ebenso wie E-Mails und anderer Datenaustausch sind geschützt. Artikel 10 Grundgesetz, Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 17 des UN-Paktes über bürgerliche und politische Rechte, der auch für die USA gilt, erlauben lediglich unter sehr engen Voraussetzungen Zugriffe auf Kommunikation und Daten. Das verdachtslose Abgreifen und Speichern kann daher nicht pauschal mit Terrorismusabwehr oder Strafverfolgung gerechtfertigt werden. Vielmehr müssen die Eingriffsvoraussetzungen klar und verhältnismäßig sein und ein hinreichender Datenschutz bestehen, einschließlich wirksamer parlamentarischer und gerichtlicher Kontrolle. 

Es ist daher die Pflicht des Deutschen Bundestags zu klären, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen fremde Nachrichtendienste, mit denen Deutschland kooperiert, auf Kommunikation von Menschen in Deutschland zugreifen und ob deutsche Behörden hiergegen wirksame Maßnahmen ergriffen haben. Ein Untersuchungsausschuss mit seinen speziellen Befugnissen bietet die Chance umfassender Aufklärung und der Entwicklung von Handlungsempfehlungen, die sich an den Menschenrechten auf Privatsphäre und Datenschutz orientieren. Dabei würde die Glaubwürdigkeit eines solchen Ausschusses gegenüber internationalen Partnern deutlich gewinnen, wenn auch untersucht würde, inwiefern deutsche Dienste diese Menschenrechte in Drittstaaten respektieren.

Montag, 21. Oktober 2013

Fukushima erfordert internationalen Rettungsplan

Berlin (fhb) - 

Anlässlich der heute endenden Untersuchungen durch die internationale Atomenergiebehörde (IAEO) fordert der NABU einen internationalen Rettungsplan für den Katastrophen-Reaktor. "Schlimm genug, dass die japanische Regierung mehr als zwei Jahre brauchte, um die internationale Gemeinschaft um Hilfe zu bitten. Bis heute ist Japan nicht in der Lage, Schritt für Schritt die Schäden rund um die havarierte Atomanlage in Fukushima einzudämmen. Es sind viele Firmen vor Ort, aber es gibt keinen Masterplan", kritisiert Bundesgeschäftsführer Leif Miller. 

Damit die weltweit besten Wissenschaftler und Ingenieure in Sachen Nuklearsicherheit in Fukushima helfen können, muss jetzt schonungslos und ehrlich die Lage vor Ort bewertet werden. Die japanische Betreiberfirma Tepco, die nationalen Behörden und internationale Experten der Vereinten Nationen, der Weltgesundheitsorganisation WHO und der IAEO müssten jetzt endlich ihre Verantwortung wahrnehmen und effektiv zusammenarbeiten, um schnellstmöglich die Kontrolle über das zerstörte Atomkraftwerk wieder herzustellen.

 "Wer jetzt noch die Interessen der Atom-Industrie vertritt und die Gefahren von Fukushima ignoriert oder verharmlost, spielt mit dem Leben zahlreicher Menschen", warnt NABU-Bundesgeschäftsführer Miller weiter. 

Die bisher eher hilflosen Schutzmaßnahmen in Fukushima bestünden hauptsächlich darin, verseuchtes Wasser in den Pazifik zu pumpen. Die ausgetretenen radioaktiven Nuklide lagern sich im Sediment am Meeresboden ab und werden von Muscheln und Röhrenwürmer aufgenommen und teilweise wieder ausgeschieden. Mit den Strömungen des Pazifiks breitet sich die Kontamination über belastete Fische und Algen in die Welt aus. Dazu droht eine weitere Katastrophe: Die Aufräumarbeiten im maroden Reaktor 4 stecken fest, hier müssten über tausende hochradioaktive Brennelemente gesichert werden. "Noch ist aber völlig unklar, wie das gelingen soll", so Miller. Können die Brennelemente nicht mehr gekühlt werden, müssten riesige Gebiete evakuiert werden, je nach Windrichtung auch Tokio, was in der Praxis bei über 13 Millionen Einwohnern aber kaum möglich sei. Die internationalen Atomkraft-Experten müssten daher in ihren Rettungsplan auch mit aufnehmen, welche Wege die radioaktive Strahlung Fukushimas zurücklegen könnte.

Donnerstag, 17. Oktober 2013

Frontex gibt Menschenrechtsverletzungen an EU-Außengrenzen zu

Köln / Berlin (fhb) - Die EU-Agentur Frontex war in den letzten Jahren regelmäßig an illegalen Abdrängungen von Flüchtlingen (sog. "Push-Backs") im Mittelmeerraum beteiligt. Darüber berichtet das ARD-Magazin Monitor am 17.10.2013 (22.15 Uhr im Ersten). 

Frontex im Einsatz
Die Praxis, nach der Flüchtlinge auch unter Einsatz von Gewalt, wieder in Drittstaaten zurück gerbracht werden, war 2012 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als menschenrechtswidrig beurteilt worden. Im gleichen Jahr hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Einsatzvorschrift für diese Praxis für nichtig erklärt. Trotzdem kam es nach Recherchen von Monitor auch danach zu wiederholten Abdrängungen von Flüchtlingen. 

Dies räumt der Leiter von Frontex, Ilkka Laitinen, gegenüber Monitor nun erstmals ein: "Für uns sind diese Push-Back Aktionen nicht akzeptabel", sagte Ilkka Laitinen, trotzdem kämen sie "bedauerlicherweise" weiter vor. "Unsere Statistiken weisen fünf bis zehn Fälle im Jahr auf, in denen wir einem solchen Verdacht nachgehen müssen." 

Auf die Dokumentation von Abschiebeaktionen unter Beteiligung von Frontex-Mitarbeitern aus dem Jahr 2012 angesprochen, sagt der Chef der Grenzsicherungsagentur gegenüber Monitor "Ich kann nicht bestreiten, dass es diese Fälle gegeben hat." 

Die für nichtig erklärte EU-Vorschrift, die die Abdrängung von Flüchtlingen in Drittstaaten detailliert regelt, kommt laut Monitor-Recherchen weiter zur Anwendung. Der Europa- und Völkerrechtler Prof. Andreas Zimmermann sieht in dieser Praxis einen klaren Verstoß gegen EU-Recht: "Die Frontex-Richtlinie sieht eine Rückführung der Flüchtlinge vor, ohne dass es zu einer individuellen Prüfung kommt, ob einem Flüchtling im Abschiebeland Folter droht oder nicht", sagt Andreas Zimmermann gegenüber Monitor. "Deshalb verstößt die Richtlinie gegen die europäische Menschenrechtskonvention und ist daher auch rechtswidrig." 

Aufgabe der EU-Agentur Frontex ist es, die Außengrenzen des sog. Schengen-Raums zu sichern und Aktionen der nationalen Grenzpolizeien zu unterstützen und zu koordinieren. Auch Beamte der deutschen Bundespolizei sind an Frontex-Aktionen beteiligt. 

Momentan agiert Frontex auch in den Gewässern zwischen Italien und Tunesien. Dort war es am 03. Oktober und am 12.Oktober zur Havarie mehrerer Flüchtlingsboote mit hunderten Toten gekommen.

Mittwoch, 16. Oktober 2013

Niemand stoppt die eiskalten Händchen der Klimakanzlerin

Tom W. Wolf
Von Jörg Wellbrock alias Tom W. Wolf
Der naheliegende Zusammenhang zwischen der BMW-Spende in Höhe von 690.000 Euro an die CDU und Merkels Querschüssen bei der von der EU geplanten Reduzierung des CO2-Ausstoßes macht einmal mehr deutlich, wie nah die Kanzlerin dem Kapital steht. Nur Konsequenzen wird es wohl abermals nicht haben.

Angela Merkel wechselt gern mal ihre Meinung. Alleine der Wahlkampf zur Bundestagswahl 2013 war ein Sammelsurium von inhaltlichen Wechselbädern der Kanzlerin. Beim Atomausstieg verhielt sich das nicht anders. Merkel setzt durch, was ihr nützt und was ihr Stimmen bringt. Nun, nach der Wahl, braucht sie diese Stimmen vorerst nicht mehr, sie sitzt fest im Sattel. Deshalb nahm sie sich ganz selbstverständlich die Unverschämtheit heraus, den EU-Beschluss, der den CO2-Ausstoß bis 2020 deutlich senken sollte, in letzter Sekunden zu torpedieren. Kurze Zeit später wurde bekannt, dass die BMW-Familie der CDU eine satte Spende in Höhe von 690.000 Euro hatte zukommen lassen. Der zeitliche Zusammenhang von Merkels Querschuss und der Spende lässt in den Augen der Linkspartei den Verdacht der Käuflichkeit zu. Den weist die CDU natürlich weit von sich. Angela Merkel selbst macht das, was sie in solchen Situationen immer am liebsten tut: nichts. 

Angela allein zu Haus

 

VDA-Chef Mathias Wissmann schwante Böses, als er von den EU-Plänen erfuhr, die Abgaswerte zu senken. Der Freund der Autoindustrie und Duz-Kumpel Merkels schrieb ihr in einem Brief schon im Mai 2013 besorgt, er sehe die Gefahr von „willkürlich gesetzten Grenzwerten“ und fürchte ein „kaputt regulieren“ durch die EU. Die wollte den CO2-Ausstoß in Europa von derzeit 130 Gramm pro Kilometer auf 95 Gramm im Jahr 2020 senken, schlecht für Automarken wie BMW, Mercedes oder Audi. Alles war schon in trockenen Tüchern, selbst die CDU-Abgeordneten in Brüssel hatten ihre Ja-Stimme abgegeben. Doch dann kam Angela Merkel und verhinderte im Alleingang die endgültige Unterschrift und somit die Verbindlichkeit der Pläne. Öffentlich sagte die Kanzlerin mit einem süffisanten Lächeln: „Deutschland ist immer bereit, diese Ziele umzusetzen. Aber es muss natürlich auch realistisch sein, wenn ich die Gelegenheit nutzen darf.“ Mit im Publikum saß auch Mathias Wissmann. Er dürfte zufrieden gewesen sein.


Billig zu haben

 

Bedenkt man, wie viel Geld allein BMW sparen kann, wenn die Reduzierung
Die Ganzgroße Koalition
des CO2-Ausstoß verschoben wird, sind knapp 700.000 Euro Spende lächerliche Peantus. Und – so zynisch das auch klingen mag – nicht einmal die Tatsache, dass die Auto-Lobby so eklatant Einfluss auf die Politik der CDU nimmt, ist der eigentliche Skandal. Schließlich ist es wahrlich nicht neu, dass die Kanzlerin und ihre Gefolgschaft dem Kapital nahezu bedingungslos folgt. Das Unfassbare ist die Tatsache, dass die offensichtliche Einflussnahme so einfach funktioniert und keine Konsequenzen nach sich zieht. Merkel selbst verliert kein Wort darüber und ließ durch Regierungssprecher Steffen Seibert lediglich mitteilen, dass sie eine Stellungnahme ablehne. Es gehe ja nicht um Merkel, sondern um die CDU. Was für eine bestechende Logik!

Die Forderung nach einer neuen Spendenregelung

 

Der politische Gegner – so es ihn denn überhaupt noch gibt – gab sich zurückhaltend. Bärbel Höhn von den Grünen wollte in der Sache „nachhaken“ (wie nett), SPD-Finanzexperte Joachim Poß sagte: „Das muss einen sehr nachdenklich stimmen.“ Wie schön.
Deutlicher wurde neben Sahra Wagenknecht von der Linkspartei, die den Verdacht der Käuflichkeit geäußert hatte, Jürgen Trittin, der twitterte: „Die Familien Quandt und Klatten von BMW kaufen am 09.10.13 die Klimapolitik von Merkel.“ Damit bringt er ein Grundproblem auf den Tisch, das Linke-Parteichef Bernd Riexinger näher ausführt: „Der Zeitpunkt der Spende zeigt, hier wurde nicht einfach eine Partei gekauft, sondern ein Gesetz. Der Verdacht der Bestechung steht im Raum, die Staatsanwaltschaft muss Ermittlungen aufnehmen.“



Man muss schon sehr optimistisch sein, um auf Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft zu hoffen. Und selbst die Forderung von der Anti-Korruptions-Organisation „Transparency International“, die ein Eingreifen von Bundespräsident Joachim Gauck fordert, ist wohl nicht mehr als ein frommer Wunsch. Die Vorsitzende Edda Müller sagte auf „Zeit Online“, Gauck könne das Parteiengesetz durch eine Kommission prüfen lassen, wenn er das Gefühl habe, dass damit etwas nicht stimme. Es ist davon auszugehen, dass Gauck dieses Gefühl nicht hat.



Bleibt die Forderung von SPD und der Grünen nach einer Deckelung der jährlichen Parteispenden auf maximal 100.000 Euro. Ginge es nach „LobbyControl“, wäre schon bei 50.000 Euro pro Jahr Schluss.
Doch die Sache wird wohl – mal wieder – glimpflich für Merkel und ihre Christdemokraten ausgehen. Michael Fuchs, Chef der CDU-Mittelstandsvereinigung, sagte entrüstet: „Die Kanzlerin ist nicht mit 690.000 Euro erpressbar oder beeinflussbar.“ Zumindest erpresst wurde Merkel sicher nicht, denn für eine Erpressung sind unterschiedliche Standpunkte nötig, die man in diesem Fall vergeblich sucht. Fuchs sagte außerdem, dass die Parteien – nicht nur die CDU – dringend auf Parteispenden angewiesen seien. Das sieht Edda Müller ganz anders. Sie sieht die Parteien finanziell gut abgesichert und fürchtet einen „Verfall der politischen Kultur, in der Lobbyinteressen immer stärker auf die Politik einwirken.“



Das stimmt allerdings nur bedingt, denn in diesem Verfall steckt das Land schon lange. Und Kanzlerin Merkel hat prominente Vorgänger. Nur ihre ungenierte Dreistigkeit, die kann sie für sich alleine in Anspruch nehmen. Ohne ein Wort zu sagen.

Montag, 14. Oktober 2013

Europa braucht eine humane Asylpolitik

Berlin (fhb) - 

Katja Kipping
Wieder kenterten am Wochenende vor der Insel Lampedusa Boote mit Flüchtlingen. Wieder berichten Medien über unendliches Leid und Tote, doch an der inhumanen Asylpolitik der Bundesrepublik und der Europäischen Union ändert sich nichts. 

Dazu erklärt die Vorsitzende der Partei DIE LINKE, Katja Kipping: 

Nach der Katastrophe von Lampedusa fordern Experten eine Reform der europäischen Flüchtlingspolitik. Außer Reden und Appellen hat sich nichts geändert. Die aktuelle Statistik der UNO belegt, dass weltweit alle 4 Sekunden ein Mensch aus seinem Heimatort flüchtet. Armut, Naturkatastrophen, explodierende Lebensmittelpreise aber vor allem Kriege sind die Ursachen dafür. Dort, wo gegenwärtig Kriege toben, ist die Situation der Menschen katastrophal. 

Aber auch dort, wo Rassismus Menschen in die Flucht treibt, ist die Lage verheerend. Die weltweite Wirtschaftskrise vernichtet in vielen Ländern in und außerhalb Europas für viele Menschen jede Perspektive, ihr eigenes Leben zu gestalten. Auch von ihnen werden viele woanders versuchen, ihr Auskommen zu finden. Es ist zynisch, wenn Bundesinnenminister Friedrich gegen Armutsflüchtlinge hetzt und um Flüchtlingsquoten feilscht. 

Wer Flüchtlingen unterstellt, sie kämen in betrügerischer Absicht nach Deutschland, will ausgrenzen und abschotten. Das ist finsterstes Stammtischniveau und rassistisch. Von der EU fordern wir endlich Mindeststandards für Asylsuchende auf hohem menschenrechtlichem Niveau durchzusetzen. Wir brauchen eine Änderung des Fluchtregimes in der EU. Die Außengrenzen sind für tausende Menschen tödlich geworden. 

Deshalb fordern wir: offene Grenzen für Menschen in Not, menschenwürdige Unterbringung von Flüchtlingen und die schnelle Öffnung von Perspektiven für diejenigen, die hier um Schutz und Aufnahme ersuchen. Schluss mit den rassistisch aufgeladenen Diskussionen um vermeintliche Wirtschaftsflüchtlinge. Die Not der Menschen hat politische Ursachen. Die Bundesrepublik hat in vielen Fällen ihren Anteil daran. Es ist deshalb auch unsere Verantwortung, dazu beizutragen, Not zu lindern und Flüchtlinge aufzunehmen.

Samstag, 12. Oktober 2013

Willy-Brandt-Kreis: Keine große Koalition

Leipzig / Berlin (lvz/fhb) - 

Kurz vor der zweiten Sondierungsrunde zwischen CDU/CSU und SPD am Montag drängt der Willy-Brandt-Kreis die SPD-Spitze zu einem Verzicht an der Regierungsbeteiligung. Die der SPD nahestehende Initiative unter Vorsitz des früheren DDR-Bürgerrechtlers Friedrich Schorlemmer fordert in einem Brief an SPD-Chef Sigmar Gabriel und Fraktionschef Frank Walter Steinmeier "in Sorge um die Sozialdemokratie" eine klare Absage an die Union. "Einen fahrenden Zug kann man stoppen", heißt es in dem Schreiben, das der Leipziger Volkszeitung (Sonnabend-Ausgabe) vorliegt. Es gebe keinen zwingenden Grund für eine große Koalition. "Sie ist weder unausweichlich noch staatspolitisch notwendig. Im Gegenteil", heißt es weiter. 

Stattdessen forderte der Willy-Brandt-Kreis die SPD dazu auf, sich klar als stärkste Oppositionspartei im Bundestag zu bekennen und "gefährdete Bürgerrechte" angesichts überbordender staatlicher Sicherheitsaparate zu verteidigen. Eine große Koalition mit einer Opposition aus weniger als 15 Prozent der Abgeordneten gefährde die Balance und Kontrollfunktion des Parlaments. "Wie bei den sogenannten Eurorettungspaketen wird die schleichende Entmachtung des Parlaments voranschreiten. Es wird, wie die vergangene Legislaturperiode gezeigt hat, aus machtpolitischer Raison mehr und mehr zu einem Vollzugsorgan des Kanzleramtes verkommen und alles, was unter tatkräftiger Mitwirkung der SPD gelingt, der Kanzlerin wiederum zugeschrieben." Nur mit einer starken SPD außerhalb der Merkel-Regierung könne auch der Bundesrat seiner Verantwortung als Korrektiv zwischen Bundes- und Länderinteressen nachkommen und der "Versuchung des Durchregierens" widerstehen. 

Der Willy-Brandt-Kreis befürchtet zudem, dass sich die SPD "in der Klammer von CDU/CSU" die Chance verbaue, Möglichkeiten von Rot-Rot-Grün auszuloten. Nur in der Opposition gebe es die Chance, den Druck auf die Linke zu erhöhen, damit diese ihre strittigen Positionen in der Europa- und Außenpolitik überdenke. "Wenn der Linken in den nächsten Jahren die Rolle der zahlenmäßig stärksten Opposition zufällt, wird dies zu Lasten einer mitregierenden SPD die strategische Option einer rot-rot-grünen Kooperation verbauen." Stattdessen würden "Differenzen wieder künstlich ideologisch aufgeladen, statt pragmatisch linke Wege im Interesse des Gemeinwohls zu suchen", heißt es abschließend.